In den Bergen von Attartkan

Aphorismus

Das alles hier hat in gewisser Weise seinen Wert für mich selbst behalten, weil es mir so gut gefällt. Das auf diese Weise zu sehen, sollte mir zustehen. 

Jeder findet sein eigenes Urteil. Das, was ich da geschaffen habe, hat sich fortwährend gewandelt. Ich schaue es mir wieder und wieder mit frischen Augen an. Daraufhin kann ich es leicht an die neuerlichen Gegebenheiten meines Daseins anpassen.

Geschichte

In den Bergen von Attartkan

Version III



Erstes Buch

Erstes Kapitel

Es war kein schöner Tag heute. Kaum ein Moment, an dem die Sonne, wenn sie die Wolken durchbrach, auch nur länger als nur wenige Minuten sichtbar blieb. Wolken schoben sich schnell wieder vor sie, gerade so, als ob nicht genügend Platz am Himmel wäre.

Eine Eiseskälte durchdrang die Natur. Alles Leben in dieser Berglandschaft war auf einen langen und harten Winter eingestellt. Man konnte kaum mehr tun, als die Hoffnung nicht zu verlieren und ausharren bis der Frühling und mit ihm die Erneuerung kommen würde.

Krähen flogen krächzend umher, kleinere Greifvögel suchten am Himmel kreisend nach ihrer Beute. Einige wenige Huftiere versuchten an den Hängen dem Wind und dem Wetter Stand zu halten. Hin und wieder sah man einen weißen Hasen. Alle anderen Tiere hatten diese karge Einöde schon verlassen und sind ins Tal hinabgestiegen, um vor der Kälte zu fliehen, die nach und nach über das Gebirge gekommen war.

Diese Landschaft war steinig, kahl und unwirtlich. Klirrende Kälte durchdrang alles Lebendige und man musste ihr die eigene Körperwärme abtrotzen.

Jedes Jahr aufs Neue drang der Winter mit festem Griff in dieses Gebirge ein und hielt es in Atem. Es hatte den Anschein, als ob gerade diese Gegebenheiten des Klimas der Sehnsucht der Natur nach einem reinen Überlebenskampf ihrer Bewohner entsprachen.

Die felsige Umgebung war den harten Winter gewohnt. Sprünge im Felsen zeugten von der Erosion, die er mit sich brachte. Dünne Äste an den Bäumen und der niedrige krumme Wuchs der Pflanzen sprach eine eigene Sprache. Spärlich waren die oberen Hänge mit Kiefern bewachsen. Weiter Richtung Tal wurde ihr Bestand dichter, an den unteren Hängen waren es genug, um einen dicht stehenden Wald zu bilden.

Vielerorts brachen Felsen durch den Boden, die Krume konnte sich an ihren von Wind umwehten Stellen nicht halten und sammelte sich zwischen den Spalten, wo kleine Pflänzchen dank ihr einen schützenden Halt fanden.

In der Ferne wuchsen die Felsen zu mächtigen Bergen heran und überragten die Gegend mit erhabener Gleichmütigkeit.

Der Wind verstärkte die gefühlte Kälte noch. Festgefroren war der Grund. Spärlich wuchs Gras, das über und über von Raureif bedeckt war. An manchen Stellen der Felsen hingen Eiszapfen. Kahl war die Welt der Berge, zumal, wenn der Frost sie in Besitz genommen hatte.


Sein Hecheln strengte ihn an. Der Wolf spürte die Kälte in seinen Kopf eindringen. Es schmerzte ihn. Die Kälte war stechend.

Im Grunde sollte er hier nicht sein. Er war hierher gezogen, von weit her, hatte alles zurückgelassen. Dieser Jagdgrund, den andere Raubtiere wohl meiden würden, bot ihm den Schutz der Abgeschiedenheit. Er selbst war nicht mehr Teil eines Rudels, war auf sich gestellt. Allein war er seit Monaten durch das Land gezogen, immer in Angst vor der Stärke anderer. Hier würde er aber kaum auf andere Wölfe stoßen.

Ein Einzelgänger wäre einem fremden Rudel gegenüber sicher unterlegen, wenn es zu einem Kampf kommen würde. Er war in diese Einöde gezogen, um dieser Gefahr nicht ausgesetzt zu sein. Und der Jagdgrund hier würde einen einzelnen, streunenden Wolf wohl ernähren.

Dieser Winter, der Erste, den er auf sich gestellt verbrachte, hatte ihm bereits jetzt schon mit aller Härte klargemacht, dass er um sein eigenes Überleben kämpfen musste. Wirre Träume beunruhigten ihn des Nachts, ein leicht aufkeimendes Empfinden der Einsamkeit hatte bei ihm eingesetzt. Der Winter mit seiner Kälte verschärfte seine Lage zusehends.

Sein silbergraues Fell glänzte. Es sorgte dafür, dass er sich gut in diese von Felsen durchdrungene Landschaft einfügen konnte, so dass er sich kaum noch von seiner Umgebung abhob. Für andere Tiere würde der Wolf nicht leicht zu entdecken sein.

Ein schmerzlicher Gedanke ließ ihn kurz seine Konzentration verlieren. Seine Gedanken verloren sich immer wieder in allen möglichen Gespinsten aus Erinnerungen und Erwartungen. In alle Richtungen ging in solchen Situationen sein Sinn. Es war eine schwere Zeit für ihn.

Manchmal hatte in den letzten Monaten die Natur für Linderung gesorgt, doch diese Kälte fühlte sich jetzt so stechend an. Keine warmen Sonnenstrahlen waren da, die seine Glieder hätten wärmen können. Seine Eintracht mit seinem Leben als streunender Wolf und die Erscheinungen der Natur mit der Härte dieses Winters führten zu einander entgegengesetzten Impulsen, die Kopfschmerzen verursachen konnten und ihn nie ganz losließen.

Er zwang sich jetzt zum genauen Beobachten seiner Umgebung, zum ruhigen Atmen und zum Weitergehen.

Gedanklich auf den Grund seines Daseins gestützt, schaute er sich in seiner Umgebung nach Zeichen einer Besserung und nach einer möglichen Linderung um.

Fast alle Wasserstellen, die er auf seinem Weg fand, waren zugefroren. Wasser zu finden war nötig. Frischen Schnee hätte man im Maul schmelzen können, doch es gab keinen. Isegrim wartete auf den Schnee, denn der würde ihm weiterhelfen.

Der silbergraue Wolf tappte vorsichtig einen Abhang hinunter. Er lief auf ein paar Kiefern zu, die dort standen, und stoppte dann. Er meinte mit seiner Nase die Witterung eines Tieres aufzunehmen, da war aber doch nichts.

So lief er weiter zu einigen Bäumen weiter unten, denn diese boten etwas mehr Schutz vor dem Wind. Er stöberte dann durch den Wald, um ihn zu erkunden.

In dieser Zeit konnte jede Möglichkeit, Nahrung zu finden, jeder Windschatten, jede offene Wasserstelle eine Zeit lang bedeuten, dass man weiterkam. Und der Körper durfte nicht abkühlen. So gut ihn auch sein dickes Fell gegen die Kälte schützte, so war doch das Weiterziehen und die Nahrung nötig, um ihm die Wärme zu verschaffen, die einen am Leben erhalten konnte.


Er hielt sich lange im Schutz der Bäume auf. Zwischendurch hatte er stundenlang klarste Gedanken und Eindrücke, dann verfiel er aber immer wieder zurück in seinen üblichen Trott.

Die kalte Luft zwang ihn, langsam und ruhig zu atmen. Seinen Leib spürte er, seine Schritte setzte er mit Bedacht. Irgendwann dann trat er aus dem Wald heraus und erklomm Hänge, suchte sich einen Felsvorsprung und begann damit die Gegend zu überblicken.

Da erstreckte sich eine Landschaft bestehend aus Hängen, an denen vereinzelt Bäume wuchsen. In den Tälern standen die Bäume dicht an dicht, und über den Hängen erhoben sich Felsmassive. Einzelne Anhöhen untersuchte er eingehender. Er merkte sich die Eigenheiten davon.

Irgendwie kam er sich trotz aller Widrigkeiten wie ein starkes, nach dem Leben hungerndes Tier vor.

Vor Monaten hatte er den Entschluss gefasst, mit sich selbst allein sein zu wollen. Einer inneren Sehnsucht folgend, hatte er sein Rudel verlassen, zu einem Zeitpunkt an dem es Schwierigkeiten für ihn gegeben hatte. Er hatte sich nicht mehr unterordnen wollen und es auch nicht mehr können.

Nun war er allein, so wie er es gewollt hatte, doch seine Sehnsucht verursachte immer noch diese Empfindungen. Er wusste, dass er nur einem in der Ferne des geistigen Erlebens schimmernden Licht folgte. Doch es war nicht seine Art, so etwas aufzugeben. Die eigene Sehnsucht konnte sich doch nicht irren.

Manchmal kamen ihm ferne Erinnerungen ins Gedächtnis zurück und verursachten tiefe Empfindungen. Was früher gewesen war, das würde er nicht wieder zurückbekommen. Das wusste er gut.

Auch wenn er nichts Eigenes mehr hatte außer seiner Freiheit, empfand er sein Leben erst jetzt als seinen eigenen Besitz. Das Gefühl, den eigenen Weg begonnen zu haben, machte ihn hart gegen alle Widrigkeiten. Auch wenn das eigene Überleben unsicher war, sein Weg stillte den Drang seines Herzens mit Trost. Das raue Klima kümmerte ihn darum zuweilen wenig. Er war dazu gewillt, Entbehrungen zu ertragen und dieses Los auf sich zu nehmen.

Dunkel standen die Bäume da. Isegrim beachtete sie kaum. Er war es nicht gewohnt, sich mit solchen Dingen abzulenken. Er sah über sich einen Raubvogel kreisen. Ein unnahbarer Geselle war das. Der ließ sich vom Himmel tragen und zog seine Bahnen durch die Lüfte.


Zweites Kapitel

Manchmal dachte er an die Zeit, als er noch einen Gefährten hatte. Der Grund des eigenen Daseins war damals noch verständlich gewesen. Der andere war immer mit ihm gezogen und so waren sie die ganzen Jahre über immer dicht beieinander gewesen. Doch dieser Gefährte war eines Tages weggelaufen und hatte ihn einfach beim Rudel zurückgelassen.

Die Sehnsucht nach seinem Gefährten war einst dann sogar zu einer Sehnsucht nach der Ferne an sich geworden. Diese Ferne, innerhalb der er seinen liebsten Kameraden vermutet hatte, machte ihn erst wehmütig und schließlich war es ihm zu einem Verlangen geworden, selbst aufzubrechen und sein Rudel genauso zu verlassen. Ausgerechnet er, der am liebsten immer bei den Seinen geblieben wäre, hatte sich dazu überwunden.

An manchen Tagen rief er elendig heulend die Geister des Himmels und der Berge an. Voller Traurigkeit erklang dabei seine Stimme, mal krächzend, mal zornig, doch hin und wieder auch einfach kläglich. Sein Heulen durchdrang dann die Nacht.

Beim Gang durch den Wald kam er an manche Stelle, an der das Licht der Sonne durchbrach und ihn für eine gewisse Zeit etwas wärmte. Er stellte sich dann ruhig hin, um mehr von den Sonnenstrahlen abzubekommen. Doch als die Sonne wieder verschwand, kehrte die Kälte unbarmherzig zurück und nahm mit ihrer schattig frostigen Art bald wieder Besitz von ihm. Er durfte in dieser Situation sich selbst nicht vergessen. Keinesfalls durfte er seine Aufgaben vernachlässigen. Zügig schritt er weiter, um seinen Leib warm zu halten.


Am kommenden Morgen begrüßte er die Umgebung mit heulendem Gebell. Er sprang über Wiesen, atmete den schwachen Duft des wenigen Grüns tief ein. Dann suchte er nach etwas Trinkbarem.

So unbarmherzig die Natur mit manchem auch sein konnte, die Ihrigen wusste sie zu fördern. Der Wolf war sich nicht sicher, ob sie für oder gegen ihn war. Jeden Moment konnte eine Not mit einer Gabe gelindert werden. Aus widrigen Umständen konnte mit einem Mal Gelingen und Gedeihen entspringen. Auch umgekehrt konnte es geschehen, was alles unberechenbar machte.

Des Tags lief er weiter. Des Abends legte er sich hin und wartete, bis die Sonne vollends untergegangen war. Dann zog er los auf die Jagd. Dabei verfiel er in eine gewisse Monotonie, die er mal fürchtete und mal genoss. Sie machte ihn selbstvergessen. Das nahm er deutlich wahr, konnte es aber nicht ändern. Zuweilen geriet er in einen Blutrausch.


Seine Sinne waren geschärft, doch es gab wenig Lebendiges zu finden. Irgendwann schlug er in dieser Nacht ein Reh, fraß es zum Teil auf, rastete danach und zog dann den Rest der Nacht hindurch weiter.

Von weit her war ein Heulen anderer Wölfe zu hören. Das versetzte ihn ziemlich in Furcht, andererseits war es für ihn auch ein Lebenszeichen von Gleichgesinnten. Doch auf ein friedvolles Zusammentreffen konnte er nicht hoffen.


Tage später nagte bei ihm der Hunger im Bauch. Anstatt sich ordentlich der Jagd zu widmen, war er lieber schnellstens weitergezogen. Er wollte tiefer in das Gebirge eindringen, um nicht von dem fremden Rudel entdeckt zu werden, dessen Geheul er noch zuvor wieder gehört hatte.

Fortwährend hatte er ihre Ankunft gefürchtet. Die Vorstellung einer Begegnung mit ihnen war ihm unliebsam. Bisher hatte er sie jedoch noch nicht abgeschüttelt. Irgendwie dachte er bei sich, dass die anderen Wölfe ihn womöglich schon entdeckt hätten. Schließlich hinterließ er ja Spuren auf seinem Weg. Um sich nicht unnötig aufzuhalten und um weniger sichtbar für die anderen Wölfe zu sein, hatte er darum tagelang darauf verzichtet, sich etwas zum Fressen zu besorgen.

Ihre Anwesenheit war ihm alles andere als recht. Es mussten einige sein, ihrem Geheule nach zu urteilen. Auch wenn er gewiss nicht schwach war, als einzelner Streuner wollte er es nicht auf eine Begegnung mit diesen ankommen lassen.

Solchen Gedanken nachgehend lief er mal trabend und mal hetzend weiter. Doch bald würde er so nicht mehr weitermachen können.

Irgendwann dann witterte er bei einem dichten Baumbestand einen Hasen und beschloss, ihn dennoch zu bejagen. Langsam sondierte er die Gegend, sah den Genossen dann schließlich zufrieden dasitzen und näherte sich ihm vorsichtig. Die Aufmerksamkeit des Hasen und die Hindernisse der Umgebung konnte er genau einschätzen. Da sprang Isegrim aus dem Versteck und riss das Tier im Nu. - Da heulte ganz plötzlich in der Nähe ein Wolf auf.

Seine Beute mit dem Maul fest packend hetzte Isegrim davon. Er gönnte sich lange Zeit keine Pause, bis er weit weg von diesem Platz war. An der Flanke des Nachbarbergs angekommen hielt er inne, legte den toten Hasen vor sich hin und speiste. Seine Muskeln zitterten vor Anspannung. Die Anstrengung war nicht ohne Spuren an ihm zu hinterlassen geschehen. Immerhin hatte er jetzt zu fressen. 

Der eine Bissen reichte ihm noch nicht. Der Graue rieb bald noch einen weiteren Hasen auf. Jener Hase, den er jetzt fand, war voll ausgewachsen und richtig fett, ein satter Genuss mit viel Winterspeck wäre das. Doch seine Jagdmethode führte diesmal nicht zum richtigen Erfolg. Dick und rund war der Hase zwar, aber auch aufmerksam und schnell. Kurze Sätze machend und schnelle Haken schlagend, hatte er den Wolf bald hinter sich gelassen. Nach einem kräftezehrenden Wettkampf gab Isegrim schließlich auf.


Später in dieser Nacht hatte Silberfell dann mehr Glück und konnte mit wenigen Sätzen eine Gämse überwinden und sich an ihr weiden. Hungrig wie er war, fraß er hastig das beste Fleisch, das ihm seit Tagen untergekommen war. Die Wärme davon kräftigte ihn zusätzlich.

Eines anderen Tages war das Beutetier wieder ein Hase. Dieser hatte einen guten Instinkt, der ihn weg hoppeln ließ. Aber erst etwas zu spät konnte er erkennen, aus welcher Richtung die Gefahr gekommen war. So lief er dem Grauen direkt vor das Maul.


Isegrim riss ihn auf der Stelle, und fraß ihn fast ganz auf. Nur Haut und Knochen, sowie die Gedärme blieben übrig. Danach trottete er befriedet zu einem Geröllhaufen und legte sich an einem windgeschützten, sonnigen Platz nieder, um zu rasten.

Etwas oberhalb der Stelle, am Abhang oben, lag ein großer Findling, und hinter diesem schaute ein anderer Wolf vorsichtig hervor, den Grauen genau musternd. Doch Isegrim bemerkte ihn nicht. Später nahm Isegrim eine sonderbare Witterung auf. Da bekam er ein merkwürdiges Gefühl dabei. Er suchte die Gegend ab, wollte sich Klarheit darüber verschaffen. Seinen Kopf hielt er mal hoch in die Luft und mal tief an den Boden beim Wittern. Das unbekannte Gefühl dabei konnte er nicht zuordnen.


Drittes Kapitel

Sein Hals schnürte sich zu. Sein Mund schmeckte bitter wie Galle.

Viele Monde waren vergangen, seitdem er allein unterwegs war. Hätte sein Gefährte das Rudel damals nur nicht verlassen, so wären sie beide noch dort gewesen. Seine Sehnsucht nach ihm wäre dann nie zu einer Sehnsucht nach der Ferne geworden. Sein Alleinsein war dabei wie ein Empfinden der Gemeinschaft mit dem Gefährten, der genau wie er irgendwo allein durch die Gegend ziehen musste. Doch es war allein nur eine Einbildung. Sie hielt ihn am Leben.

Nach seinem Kampf mit den älteren Wölfen hatte der weggehen müssen. Aber Isegrim war damals zu feige gewesen, um ihn zu unterstützen. Er war auch nicht mit ihm fortgezogen, als er sich aufgemacht hatte. So hatte er schließlich beides verloren, das Rudel und den liebsten Gefährten. Er hatte zuvor nicht geahnt, was für Sehnsüchte der Fortgang seines Gefährten in ihm wecken würde. Er hatte eine Zeit lang gedacht, er würde auf ihn verzichten können. Sein Fortgang war ein Nachlaufen, eine Suche nach dem Bruder.

Ganz allein musste er jetzt der Welt standhalten und aus eigener Kraft seinen Willen zum Leben bewahren. Ihm war dabei oft übel vom andauernden Alleinsein.

Das immer gleiche Treiben der Gedanken und Gefühle beschäftigte ihn sehr. Er konnte sich kaum davor schützen, die Dinge immer und immer wieder zu bewerten. Seine Begriffe davon wandelten sich und hörten nicht auf damit. Er hatte keinen Halt. Er kam auch nie zu einem endgültigen Schluss. Dieser Prozess hörte lange nicht auf, als er einmal eingesetzt hatte. Ein unseliges, für lange Zeit fortdauerndes Abwägen der Dinge lähmte ihn weitgehend. Würde er doch nur bei seiner inneren Haltung bleiben können. Doch er bekam diese Dinge nicht zu fassen. Zuweilen verloren sie sogar ihre wahre Bedeutung. Dann hatte er seine Mühe damit, sich selbst über den Weg zu trauen. Wie üppig und reich dagegen seine Gedanken zu früheren Zeiten gewesen waren, konnte er jetzt nur noch ahnen.

Für ihn bestand kein Zweifel am Sinn dieser Suche nach dem Gefährten früherer Tage. Doch seine Unternehmung führte ihn weit weg von einem ihm bekannten Gebiet. Da erreichte er immer wieder neue, der eigenen Veranlagung nicht entsprechende, ferne Orte. So wusste er oft nicht mehr, an was er sich denn orientieren konnte. Einen richtigen Sinn hatte das alles schon lange nicht mehr.

Irgendwann dann waren die ersten Ohnmachtsgefühle über ihn gekommen. Sie begannen ihn zu bedrängen, als er es gewahrte, wie groß diese Welt bereits für ihn geworden war. Wie sollte er den anderen finden können? - Ganz auf sich selbst gestellt wurde ihm zudem bewusst, dass er auch noch unbekannten Gefahren ausgesetzt war. Sein Schicksal war auch bisher nicht milde mit ihm umgesprungen. Einen hohen Preis hatte er da zu zahlen.

Manchmal jedoch brachen bei ihm auch lichte Gefühle durch diese dunklen Wolken hindurch. Dann bekam er wieder schönere Gedanken und konnte sich freuen. Das Glücksgefühl einer fast schon erfüllten Sehnsucht war es da, Mut bewiesen zu haben. Er glaubte, aufrichtig dem eigenen Gefährten gegenüber seinen Fehler wieder gutgemacht zu haben. Die eigenen Stärken und diese Treue zum alten Gefährten führten ihn bisweilen in fast schon unwahrscheinliche Vorstellungen eines Miteinanders voller Glück.

Nach und nach verhärtete sich dieser Zustand und war dann gefestigt. Solch goldene Gefühle am Herzen tragend, wurde Isegrim nach außen hin hart, blieb aber froh. Immer dann, wenn er selbst etwas Großartiges zu leisten vermochte, schöpfte er neue Hoffnung. Er wollte das schaffen. Er fühlte sich bisweilen stark genug, um zu bestehen.

Mochte ihm auch die Entbehrungen der fehlenden Gemeinschaft, wie auch die Kälte um ihn herum arg zusetzen, so bestand er doch. Da mochte er ausgezehrt sein, das war noch lange nicht alles. Wieder und wieder rief er sich seine Ziele in Erinnerung. Man konnte es durchaus so sehen, dass er sich in Gewalt gegen sich selbst übte.

Er versuchte aber immer auch, einen baldigen Trost zu finden. Er liebte die Natur und auch sein Dasein mit ihr. Wenn es so sein sollte, dass er das überstand, dann würde er es auch schaffen.


Isegrim befand sich im Nirgendwo einer weiten Gebirgslandschaft. Ein Berg sah fast wie der andere aus. Im Dunkeln der Nacht heulte er kraftvoll gegen den Himmel. Es war das durchdringende Geheule eines Wolfes, der trotzig all jenem seine Gesinnung kund gab, was nahe genug war, um ihn zu hören. Die Luft vibrierte von seinem Gesang und es zitterten manche der wilden Tiere der Umgebung vor ihm.

Mit einem verklärten Blick, einem jenseitigen Blick, hielt der Wolf irgendwann inne und nahm eine andere Haltung ein, in welcher er sich mit der Welt als Einheit erkannte und eins mit ihr war.

Unterdessen war es Morgen geworden. Das helle Licht der Sonne drang durch den Wald. Er brach auf und entdeckte irgendwann zwischen Steinen ein kleines Rinnsal, von dem er ein bisschen Wasser mit seiner Zunge aufleckte.


Das Leben am Rande der Felswände war von archaischer Schönheit, wenn man den speziellen Geschmack dafür empfinden konnte. Seine Gefühle und die grauen Felsen des Gebirges passen gut zueinander. Es war eine Landschaft, die ihm in ihrer Kargheit oftmals entsprach.


Viertes Kapitel

Es gab einen dumpfen Schlag und Isegrim fiel auf den Boden. Da japste er heftig.

Beim Spurt den Hang hinunter war er unversehens umgeknickt, ein Stückchen den Abhang hinuntergerutscht und mit dem Schädel gegen einen Stein gekracht. Welch ein Missgeschick das doch war. Sein linker Vorderlauf war jetzt verstaucht und schmerzte. Der Kopf dröhnte. Er spürte zudem den Biss der Kälte der Umgebung in seinem Bauchbereich. 

Mit dem verstauchten Bein bestand kaum Hoffnung darauf, Beute zu machen.

Sein Geist war auch noch umnebelt. Kraftlosigkeit und Ohnmacht kamen über ihn. Durch einen immer stärker aufgekommenen Schmerz verlor er erst einmal sein Bewusstsein.

Nach einer ganzen Weile kam er wieder zu sich. Da stand er auf und tappte langsam vorwärts, um zu einer stärker vor dem Wind geschützten Stelle des Walds zu gelangen. Dort wollte er sich hinlegen.


Als er dort angekommen war, rollte er sich eng zusammen, um die Kälte nicht mehr gar so arg an sich herankommen zu lassen. Viele Stunden lang lag er da. Hilflos und mit Hunger im Bauch ging es ihm nicht gut. Es war schon die tiefste Nacht, als er endlich einschlief. Er bemerkte nicht mehr, dass es zu schneien begann.

Der Schnee legte sich Flocke für Flocke auf den Boden, auf die Bäume, auf Steine, Berge und eben auch auf den liegenden Wolf. Die Kälte griff um sich, aber der Schnee linderte sie. Ein schützender und wärmender Mantel aus diesen weißen Flocken deckte das Land nach und nach zu und versprach, allen Tieren dort eine neue Hoffnung zu geben.

Unterdessen schlief der Wolf einen langen, aber unruhigen Schlaf. Er träumte davon, wie er wieder und wieder ums eigene Überleben kämpfen musste. Sein Bein pochte. Seine Verlustangst war übermächtig in dieser Nacht und sie bestimmte seine Träume. Wirre Geschichten um sein Leben nahmen ihn ein und plagten ihn sehr.

Das stellte er sich vor. Gehetzt von einer Schar Hunde sprang er über manche Wiese. Diese waren so schnell, dass er Mühe hatte, den Abstand zu ihnen aufrechtzuerhalten. Irgendwann hatte einer der Hunde ihn erreicht, sodass er sich beinahe an Isegrim festgebissen hätte. Da stolperte der Hund plötzlich über einen Ast auf dem Boden, stürzte und überschlug sich dabei heftig.

Doch es gab kein Durchatmen für den Wolf. Die anderen Hunde waren bald genauso schnell. Die Hetzjagd zehrte ziemlich an seinen Kräften. Seine Knochen taten weh, seine Atmung ging schwer. Solch große Hunde mit starken Kiefern und kraftvollen Beinen jagten ihn in Richtung eines Walds. Mit ihnen zu kämpfen, hätte keinen Sinn.

Er sprang so schnell er konnte über einen umgestürzten Baum. Das Hindernis würde die Hunde sicherlich abbremsen. Doch er stürzte dabei, weil er den Sprung falsch eingeschätzt hatte. Er hatte sich im Geäst verfangen und jetzt warfen sich diese Hunde auf ihn, rissen und zerrten an ihm. Sie bissen ihn blutig am Bauch, jedoch der Moment des Todes wollte und wollte nicht kommen.


Da wachte er angstvoll winselnd auf. Als Isegrim die Augen öffnete, waren sie von dem Sekret der Augen verklebt. Es gelang ihm endlich, sie einen kleinen Spalt zu öffnen. Da drang von außen gleißendes Licht in sein Auge ein. Er wusste gerade nicht, was das war, noch wo er war. Schließlich besann er sich. Er richtete sich auf, sank aber dabei mit seiner Pfote in etwas Kaltes ein. Schlagartig wurde es ihm klar. Es hat diese Nacht über geschneit. Er konnte sich aber noch kaum freuen. Es ging ihm zu schlecht dazu.

Seine Pfote schmerzte noch deutlich vom Sturz am Vortag. Isegrim befand sich mitten auf einer schneebedeckten Wiese. Er war nicht mehr im Schutze der Stelle, die er am Abend zuvor aufgesucht hatte, sondern etliche Längen davon entfernt. Er musste also im Schlaf weitergegangen sein. Gott sei Dank war ihm dabei nichts passiert.

Er setzte seinen linken Lauf vorsichtig auf den Schnee auf. Dann ging er ein paar Schritte. Die Hänge waren bedeckt von weißem Puder und glänzten im Schein der Morgensonne. Er fraß ein bisschen vom Schnee. Der war zwar kalt, aber er schmolz sogleich zu Wasser.


Das Glitzern des Schnees brachte ihm dann doch irgendwann die ersehnte Zufriedenheit ein. Das stechende Gefühl beim Atmen hatte etwas nachgelassen. Das Klima fühlte sich jetzt milder an.

Jetzt drehte er sich spielerisch mit seinem Körper im Kreis. Dabei spürte er sich gut, wie er, während er nach seinem Schweif schnappte, spielend zu Kräften kam. Der Graue stellte sich dazu einen Gefährten vor und schloss auch sogleich seine Augen, damit die Illusion nicht nachließ. Er sprang jetzt durch den Schnee. Mit jeder weiteren Bewegung seines Körpers kamen Eindrücke an seine Stärke bei ihm auf.

Langsam wechselte er vom Nachahmen eines kindlichen Drangs zum Spielen zu einem Nachahmen von echten Jagdtechniken über. Die Vorstellung einer imaginären Beute ließ ihn tüchtig erscheinen. Da jagte er umher. Seine Lungen atmeten kraftvoll. Sein Körper belebte sich und gewann an der so wichtigen Spannung wieder hinzu. Konzentriert öffnete er jetzt seine Augen und sprang in schnellem Tempo über die schneeweiße Wiese. Seiner Vorstellung nach jagte er ein Beutetier. Er hatte endlich wieder die Kraft dazu.

Plötzlich kamen ihm seine gestrigen Träume in Erinnerung zurück. Er ging seinen Traum durch, so wie er erschienen war. Er wollte einen besseren Traum erfahren, eine bessere Vorstellung davon erleben. Da änderte er willkürlich den Verlauf des Traums ab. Er stellte sich jetzt vor, dass er mit kraftvollen Sprüngen den Hunden entkommen wäre und das war gut so.


All das hatte er sich jetzt nicht allein vorgestellt, sondern er hatte jede seiner Bewegungen mit seinem Körper ausgeführt, war auch umher gerannt. Seine Knochen fühlten sich jetzt wieder gut an. Alles war am rechten Platz zurück. Der Wolf hielt irgendwann daraufhin inne und hörte damit auf.

Die Sonnenstrahlen wärmten ihn. An den Berggipfeln durchdrang das Grau des Felsens den Schnee an manchen Stellen. Der Himmel darüber strahlte in leuchtenden Blautönen. Nur wenige Wolken standen dazwischen am Himmel und hoben sich dank ihrer weißen Farbe deutlich vom strahlenden Blau des Himmels ab. Derweil bogen sich die Zweige der Bäume unter der Last des am Vorabend gefallenen Schnees.


Diese Berglandschaft hatte eine eigene Würde, die alles Leben in ihr prägte. Majestätisch überragten die Spitzen der Berge die Wiesen und Wälder. Sie wurden ihrerseits vom Himmel überragt. Es erschien so, als ob es diesen beiden Urgewalten etwas gälte, sich Respekt bei den Lebewesen der Erde zu verschaffen.

Doch wie geknechtet waren da die Tiere. Fortwährend mussten sie sich ihr Fressen suchen, konnten dabei oft keine Minute lang richtig durchatmen und waren vielerlei Gefahren ausgesetzt. Allen voran bestimmte das Klima den Lauf des Lebens der Bewohner dieser Gegend. Auch haben die Tiere mit ihrem eigenen Leben etwas Wertvolles zu verlieren. Solche Eindrücke hatte der graue Wolf bei sich und verstand etwas davon.


Beim Hinabgehen vom Berge verspürte er wieder ein Hungergefühl bei sich. Er atmete erst einmal tief durch. Es dampfte dabei aus seiner Nase. Dann suchte er die Gegend ab und versuchte die Witterungen der Umgebung aufzunehmen.

Er lauschte auch den Geräuschen der Gegend. Da beobachtete er einige Krähen dabei, wie sie auf- und abfliegen. Zwischendurch setzten sie sich nieder und versuchten immer wieder, irgendetwas aus dem Schnee zu picken.

Isegrim winselte leise, stimmte sich dann aber auf seine Umgebung gut ein. Da gewann er an Zutrauen zu sich und heulte schließlich sogar mit grimmigen Lauten. Es war dies der Ruf eines Tieres nach dem Leben selbst.


In der Nähe knackte es im Gebüsch. Da war wohl etwas. Der Graue achtete aufmerksam darauf, was er hörte. Da vernahm er ein Gebell. Er vergaß jetzt seine Vorsicht bereits vergangener Tage und antwortete auf das Rufen, heulte unüberhörbar laut dem Himmel zu. Von den Bergen hallte das Geheule als Echo wieder. Entfernt antwortete darüber hinaus ein anderer Wolf.

Die Raben krächzen währenddessen lauthals. Ein besonders Großer von ihnen, der etwas abseits saß, machte hohe Trillerlaute. Da lief vor ihm ein Reh kurz aus dem Gestrüpp heraus und rannte schnell wieder weg.

Von den Ästen mancher Bäume tropfte derweil Schnee herunter auf den Boden und bildete an einigen Stellen Schneematsch. Es hatte vorübergehend zu tauen eingesetzt. Am Nachmittag nahm der Wind wieder zu und mit ihm kam die Kälte wieder ins Land zurück.


Fünftes Kapitel

Wiesen blühten, die grüne Pracht stand voller Saft, brachte Lebendigkeit zu Gange. Bäume, die im vollen Saft standen, trieben mächtig aus. Auf dem Boden wachsen Myriaden kleinster Blättchen und Zweige. Triebe schossen hervor, Käfer und Ameisen krabbelten umher, schleppten Zeugs. Frühlingsblumen standen auf den Hainen, Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte, Bienen und Hummeln summten. Vögel flogen emsig auf und ab und sangen dabei, der lange Winter war endlich vorüber. Isegrim ließ es sich gefallen. Hinter der Wiese plätscherte ein kleiner Bach munter vor sich hin. Das Wasser bot Lebensraum für allerlei Frösche und Kröten, für Fische und Krebse.

Dieser Frühling war ihm sehr willkommen. Er rief in ihm die unvernünftige Sehnsucht hervor, dass die Zeit doch besser hier still stehen sollte. Gelbe und weiße Blüten standen an langen Halmen und überragten das gewachsene Gras. Überall, wo man nur hinschauen konnte, gab es etwas Wunderbares zu entdecken. Nichts war mehr übrig von der Verbitterung der Winterzeit. Sie hat sich mit jedem weiteren Tag des Sonnenscheins mehr und mehr aufgelöst. Die Lebewesen glühten jetzt schon wieder, waren regsam. Sie waren bereit zum eifrigsten Glänzen und Streben, um nur ja jede Minute dieser schönen Zeit voll auszunutzen und für alles, was im Leben nötig ist, zu sorgen.

Heitere Gefühle kamen auf, die Welt war nun wieder sie selbst. In vollen Zügen atmete jedes Tier, lieblich wuchsen die Pflanzen, vergessen waren die Entbehrungen der Winterzeit.

Mit den Vogelschwärmen war auch der Frühling gekommen, Insekten waren aus ihren Löchern und Verstecken in immer neuen Scharen gekrochen und alles Lebendige entfaltete sich wieder, dass es nicht schöner sein konnte.

Man sah Eichhörnchen umher trippeln, Fasane und Auerhähne stolz über die Wiesen schreiten. Mit jedem weiteren Tag strebte alles dem Sommer und seiner Hitze entgegen, Pflanzen bildeten ihr schützendes Laub, die Natur zog sich ihre Festtagskleidung an. Sogar der Wolf bekam ein dunkler gefärbtes Fell.


Isegrim lag fühlend und schmeckend da, den Kopf nach vorne gestreckt, mit ihm den Boden berührend. Seine Hinterläufe hatte er zum Bauch hin angezogen. Er verspürte das Licht der Sonne, wie es sein Fell berührte und auch, wie der Wind die einzelnen Haare seines Fells umwehte. Bäume ließen ihre Äste im Wind wiegen, wohl einem inneren Bedürfnis nach Bewegung folgend.

Seine Augen wurden irgendwann feucht. Er liebte dieses Gefühl. Mit klarem Verstand und verschwommener Sicht betrachtete er die Gegend und es schien, als würde er lächeln.


Manche Vögel sangen früh morgens ihre schönsten Lieder, andere pfiffen den ganzen Tag. Krähen und Dohlen fliegen in Schwärmen durch die Lande und verbringen viel Zeit an ihrem Familienwohnsitz, den höchsten Bäumen der Gegend, mit besonders ausgeprägten Kronen. Greifvögel dagegen lebten meist für sich allein und waren nicht so auf Gemeinschaft aus. Sie kreisen zwar schon mal zu dritt oder zu viert hoch oben durch die Lüfte, doch ansonsten pflegten sie nicht gerade große Familientreffen zu veranstalten. Des nachts waren Eulen die eindrucksvollsten Vögel, die bei ihrer Jagd auf Mäuse und dergleichen kaum hörbar waren. Ihre großen Augen konnten dabei einem schon einmal im Lichtschein des Mondes wie leuchtende Flammen vorkommen. Jedes dieser Tiere hatte seinen Platz hier.

Das Leben der Tiere bedurfte mancher Dinge, um gut zu funktionieren. Die eigene Bereitschaft dazu, die von der Natur vorgesehene Rolle einzunehmen, war die entscheidende Grundvoraussetzung für alles Weitere. Ein Wolf muss zum Beispiel immer dazu bereit sein, auch Tiere zu töten, um sich zu ernähren. Seine Kräfte mussten dabei für die manchmal die Kräfte aufzehrende Jagd ausreichen, und an Geschick durfte es ihm natürlich auch nicht mangeln. Das, was ein Tier in seinem Leben erfuhr, das musste es zudem richtig zu deuten wissen und sein Leben danach ausrichten. Mutter Natur verlangte es so.

Wie könnte also ein Tier als ein Schlechtes bezeichnet werden, wenn es nur seinen Platz in der Welt einnimmt?

Das Gleichgewicht der Natur gab jedem Tier seine Aufgabe. Die Wölfe hatten wohl die Aufgabe, die schwächsten Tiere auszumerzen, und so die anderen vor solchem Dasein zu warnen.

Solch ein Wolf war ein wahrhaft schönes Tier, zwar wohl sicher gefährlich und Furcht einflößend für Einzelne, aber auch ein wichtiger Bestandteil der Welt.


Nachdem der Graue ein junges Reh erlegt hatte, riss er große Stücke aus seinem Körper und fraß sie. Das Blut des Tieres tränkte dabei den Boden. 

In den letzten Tagen ist er ein großes Stück weitergekommen. Sein Weg führte ihn zu vielen schönen Plätzen . Nur ab und zu hatte er gerastet, dann auch nur für kurze Zeit, denn er hatte sich nicht an einem Ort festsitzen wollen. Er ließ das Reh liegen. So viel Fleisch auf einmal war zu viel für ihn, er würde später noch einmal zurückkommen und weiter fressen.

Von der Stelle aus, an der er hier stand, konnte er die morgendliche Glut der Sonne gut sehen. Wie eine rote und goldene Scheibe stand sie so gleißend da. Sie kam ihm dabei plastisch vor, so als wäre sie ganz nahe. Ihre wärmenden Strahlen drangen durch die Oberfläche der Dinge und berührten sie innerlich. Er fühlte eine Verbundenheit mit all den Dingen um ihn herum bei dieser Empfindung. Er spürte intensiv, was da war, ja was ihm nahe war. Was ihm dabei besondere Freude bereitete, war die Klarheit, mit der er diese Dinge beobachten konnte.


Er streckte seine Glieder. Eine ganze Weile lang hatte er jetzt schon dagestanden. Er brauchte dringend noch mehr Bewegung. Und er wollte sich am Bach mit Wasser erfrischen. Zu diesem Zweck lief er auf dem kürzesten Weg zum Bachlauf in der Nähe und trank von seinem Wasser. Es reinigte ihn vom Geschmack des Blutes. Dann wanderte er lange Zeit umher, bis er sich schließlich für einen Platz zum Ausruhen entschieden hatte, dort legte er sich nieder.

Der Wolf spitzte ab und zu seine Ohren, um zu lauschen, ansonsten wurde er schläfrig. Er liebte es, dort zu liegen. Es gab ihm das Gefühl, alles zu haben, was er brauchte.


Er träumte vor sich hin. Seine Gedanken waren jetzt leichter zu ertragen. Wieder war er ein Jahr älter geworden, hatte einige schwere Tage überstanden. Manches Ereignis der letzten Monate wurde ihm jetzt, mit Abstand, in seiner wahren Bedeutung verständlich. Er hatte das Gefühl, dass manche Narbe und manche Blessur aus jenen Tagen erst jetzt richtig ausheilen können.

Das emsige Treiben um ihn herum war toll, die lebhaften Farben und die erdigen und fruchtigen Gerüche der Pflanzen gaben Hoffnung. Wenn er sich daran erinnerte, wie es war, als die Pflanzen vereinzelt erste Knospen ausgetrieben hatten, als ganze Vogelscharen aus dem Nichts aufgetaucht waren und in den Lüften gekreist sind. Das war, als die letzten Eiszapfen kleiner und kleiner wurden, der Tag, als er sich das erste Mal wieder richtig aufgewärmt hatte. Das angenehme Empfinden in den Knochen, das hat ihn so zufrieden gemacht.

Die Schritte, mit denen sich der Winter verabschiedet hatte, hatte er eingehend beobachtet. Auf die kargen Wintertage mit ihren verschneiten und vereisten Landschaften und dem Frost war ein Meer aus Licht und Wonne gefolgt. Wie von selbst war das Leben in die Pflanzen zurückgekehrt, erweckte Sehnsucht nach Vegetation, nach dem Aufblühen, nach Wachstum, nach Gestalt, Farbe und Geruch. Sie mussten die ganze Zeit auf ihren Tag gewartet haben. Schon manches Mal hatte der Graue den Wechsel der Jahreszeiten erlebt, doch noch nie war er ihm so eindrucksvoll vorgekommen. Mit dem Duft des Frühlings in der Nase ließ es sich gut an, an diese Zeiten zu denken.

Zu jedem dieser Eindrücke gesellte sich bald eine Empfindung, aber auch eine Erinnerung dazu. Sein Verstehen, ja sein Begreifen, folgte unmittelbar. So träumte sich der Wolf in seine Gedanken hinein und vergaß sich dabei selbst und begann dann auch noch schlafen. Im Schlaf spielte er dann träumend mit seinem Gefährten, war bei seinem Rudel. Es erfüllten sich jetzt tiefste Sehnsüchte im Traum. Die Tatsache, dass ein solcher Traum auch etwas Trauriges hatte, änderte nichts an seinem Glücksempfinden.


Er trottete durch Wiesen am Waldrand entlang, stöberte umher und versuchte, eine frische Fährte aufzuspüren. Dabei ging die Sonne in ihrer schönsten glutroten Farbe unter und erhellte die Landschaft in Schattierungen ihrer eigenen Farbe. Irgendwann nahm er eine Witterung auf. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich seine Haltung, sein Gang, und er wurde zum Jäger. Durch den Wald ging es, der Fährte folgend. Irgendwann scheuchte er Rehe auf, die ihn zuerst wahrgenommen hatten. Sein Hunger nach frischem Fleisch trieb ihn nun dazu an, diese fast aussichtslose Jagd aufzunehmen. Er hetzte den Rehen lange hinterher. Es ging aber irgendwann hangabwärts, der Boden war dort mit Hindernissen übersät. Die Rehe waren zu schnell, der Wolf hatte zu große Mühe mitzuhalten. Er hetzte so schnell er konnte, gab dann aber schließlich doch auf und hielt inne. Da bemerkte er sie. Ihre Witterung war klar und deutlich zu vernehmen. Es war eine Wölfin. Er wusste auf einmal nicht, was er tun sollte. Sie wandte sich von ihm ab und lief weg...

Isegrim blieb erstmal wie gelähmt stehen. Aus Furcht lief er in die andere Richtung. Auf seinem weiteren Weg blieb ihm das unschlüssige Gefühl erhalten. Am Fuße eines hohen Baumes fand er den Rest eines gerissenen Rehs. Er konnte seinen Geruch nicht ab, aber es sah irgendwie trotzdem noch genießbar aus. Gedankenverloren brach er ein paar Bissen aus dem Fleisch und fraß sie hastig.


In der damaligen Nacht schlief er kaum, war aufgeregt und hatte sich schließlich dazu entschlossen, das Gebiet nach dieser Wölfin abzusuchen. Bei Tagesanbruch fraß er noch einmal vom stinkenden Fleisch und machte sich dann jedoch auf die Suche. Er lief Hänge entlang, durch Wälder, auf der Suche nach ihrer Witterung. Er hatte sie sich eingeprägt und er fand sie auch immer wieder an den unterschiedlichsten Stellen vor.

Irgendwann ging es einen Abhang hinunter, an manchen Stellen meinte er mehrmals den deutlichen Geruch von ihr aufzunehmen, doch dann löste sich diese Wahrnehmung wieder in ein Nichts auf. Er kam zu einem Abgrund, der Fels endete jäh vor ihm. Er lief ihn ab. Der steinige Boden ließ nur vereinzelt zu, dass Bäume hier wachsen konnten. Irgendwann entdeckte er einen Weg nach unten. Er tastete sich vorsichtig, Schritt für Schritt den Steilhang hinunter. Unten plätscherte ein Bach. Er schaute sich diesen Wasserlauf eingehend an, hob die Nase um zu wittern und beobachtete die Umgebung. Nach einer Weile ging er dann zum Bach und erfrischte sich erst einmal.


Er ging jetzt den Bachlauf entlang. Plötzlich spürte er einen Ruck an seinem Leib, wirbelte schnell herum, nahm den intensiven Geruch und die Gestalt der Wölfin wahr, die hinter ihm stand. Er schreckte kurz auf, drehte sich um, nahm eine Angriffshaltung ein, doch die Situation ließ ihn instinktiv mit Vorsicht agieren.

Sie hetzte davon, und er rannte schließlich hinterher. Durch Gestrüpp und über Steine ging es, große Felsstücke lagen als Hindernisse auf dem Weg. Urplötzlich hatte er sie aus den Augen verloren. Er lief noch ein kurzes Stück, dann stoppte er und wartete ab. Irgendwann nahm er einen Geruch auf und drehte sich danach um, sprang auch darauf zu. Da hörte er hinter sich knackendes Holz. Nun war er der Gejagte.

Schneller und schneller ging es, den Bachlauf weiter entlang, bis es kein Weiterkommen mehr gab. Es gab eine kurze Rangelei, dann war alles vorbei. Die Wölfin war über ihn gekommen und hatte ihn mit ihrem Maul in festem Griff an seiner Kehle. Einen unendlich langen Moment lang hielt sie diese Pose aufrecht. Isegrim durchzuckten Stürme von Gedanken und Gefühlswallungen. Sie drohte ihm die Kehle durch zu beißen.

Der Schock saß tief! Der Wolf hielt artig still und achtete darauf, keinen Mucks zu machen. Quälende ewig dauernde Sekunden des Innehaltens waren das für ihn. Sie ließ nicht von ihm ab, ehe sie gemerkt hatte, dass sein Gefühl der Unterlegenheit ihr gegenüber bis in die tiefsten Ritzen seiner Knochen eingedrungen war und sie mit Furcht angefüllt hatten. Doch dann lockerte sie ihren Griff schließlich doch noch...


Er hechelte schwer, fühlte tiefe Beklemmung. Sein Rücken schmerzte wegen der spitzen Steine, auf denen er liegen musste. Außerdem war sein linker Vorderlauf verdreht. Der Graue traute sich nicht, seine Haltung zu korrigieren. Sie konnte jederzeit wieder fester zupacken.

Er grummelte, irgendwann murrte er sogar. Er wechselte vom Winseln über zu einem tiefen sonoren Brummen, als ob ihm die Situation irgendwie angenehm wäre und schaute was passieren würde. Das versetzte der Wölfin ihrerseits einen tiefen Schock! Irgendwann ließ sie ganz locker und ging einen Schritt zurück, nicht ohne sich kraftvoll vor ihm aufzubauen.

Der Wolf drehte jetzt erstmal seinen Vorderlauf zurecht und atmete etwas erleichterter durch. Nach einer guten Weile traute er sich auch noch, sich von den spitzen Steinen zu erheben und stellte sich langsam auf seine Beine. Dabei beobachtete er genau wie die Wölfin darauf reagierte. Er konnte sich nicht noch einmal mit ihr messen. Ihre Geste war eindeutig gewesen. 'Das nächste Mal beiße ich Dir die Kehle durch', hätte sie bedeuten sollen.

Als er schließlich ganz aufgerichtet war, standen sich beide Tiere lange zögerlich gegenüber. Keiner wusste was er tun sollte, und so verließen sie sich ganz auf ihre Eindrücke. Mit gesenktem, zum Angriff bereiten Kopf stand die Wölfin da. Er spürte die Spannung in seinen eigenen Sehnen. Beide verharrten in dieser Lage. Irgendwann drehte er sich dann vorsichtig ab und bezeugte so ein zweites Mal seine schwächere Position. Sie griff ihn nicht wieder an.

War die Gefahr jetzt vorbei? Er achtete auf jede seiner eigenen Bewegungen, auf die Signale, die er mit ihnen setzte. Irgendwann begann sich plötzlich beider Wesen zu verzahnen und es kamen erste unbeholfene Ansätze einer Kommunikation zwischen ihnen zu Wege. Sie warteten vorsichtig mit gewissem Abstand zueinander. Dann näherten sie sich einander und neigten sich einander zu. Zusehends entspannte sich die Lage. Irgendwann konnten sie nicht mehr anders. Sie haben sich eingehend beschnuppert.



Zweites Buch

Sechstes Kapitel

Erster Teil

Er hob seinen Kopf, während er sie mit dem Hals berührte. Lange standen sie da. Sie sprang auf einmal davon, und er hetzte ihr hinterher. Er jagte sie. Schließlich wandte sie sich kraftvoll um, sie wechselte die Rollen. So ging es hin und her. Das war für sie das Wichtigste, was sie tun konnten. Prächtige Wiesen umgaben sie, ein ganzes Jahr schon waren sie nun beieinander. Der Sommer verwöhnte die Beiden in ihrem Glück. Hier, im Schutz des Gebirges, haben sie das ganze Jahr gemeinsam verbracht.

Es wehte immer ein frischer Wind, der die Beiden beseelte, ihnen ihre Lebenskräfte und Sinne stärkte. Ihr gemeinsames Spiel hatte Bedeutung für ihr Seelenglück.

Bei der Jagd auf andere Tiere hatten sie nun deutliche Vorteile. Gemeinsam konnten sie sogar Hirsche jagen. Und es kostete sie nicht mehr so viel Kraft wie zuvor, als sie noch allein waren. Sie hatten öfter Erfolg dabei, was ihnen manche Entbehrung erspart hatte. Manche schlechten Gefühle, die beide zuvor gekannt hatten, hatten sie abgelegt. Die Sehnsucht Isegrims hatte eine ungeahnte Erfüllung gefunden. Sie durchlebten diesen Sommer, obwohl er kurz war, mit den Wonnen der gestillten Sehnsucht.

Im Herbst wanderten sie weiter, in andere Regionen, wo das Klima mäßiger war. Irgendwann holte der Winter sie aber doch ein und hinterließ auch diesmal wieder seine Spuren an ihnen.

Mit den ersten Frühlingstagen des zweiten Jahres kam dann etwas ins Spiel, das Isegrim aufmerken ließ. Die Art, wie seine Gefährtin jagte, wie sie sich bewegte, ließ eine stille Hoffnung aufkeimen. Oft lagen sie lange beisammen und lauschten dem Wind, schauten dem Gras beim Wachsen zu.


Zweiter Teil

Sie waren ein gutes Stück entfernt vom Gebirge. Der Graue lag mit seinem Kopf zwischen den Vorderläufen unter einem Birnbaum und schaute der Sonne zu, wie sie unterging. Ein Zitronenfalter flog vor seiner Nase umher, dann wieder von einer Blume zur anderen, und schließlich wieder in Richtung seiner Nase. Er erinnerte sich dabei an Zeiten der Verbitterung, konnte gut erkennen, was er durchgemacht hatte, und ließ sich tiefer und tiefer auf den Grund der Wiese sinken. Mit Tränen in den Augen lag er da, schweigsam und regungslos.

Auf der Wiese vor ihm stand, ins Licht der Abendsonne getaucht, seine Gefährtin mit drei jungen Welpen. Sie beaufsichtigte die Kleinen beim Spielen, dabei griff sie schon mal lenkend ein und irgendwie machte sie auch mit, wenngleich nur mit den kraftvollen Bewegungen einer ausgewachsenen Wölfin.

Bei Leibeskräften zu sein war gut. Es lebte sich leichter so. Spielende Welpen, die einander jagten, gaben den beiden ausgewachsenen Wölfen das Gefühl der Liebe. Jeder dieser Momente war voller Trost. Isegrim schlief mit solchen Empfindungen ein. Träumend stellte er sich vor, wie er mit seinem Gefährten über eine Wiese jagte.

Der Schlaf währte nicht lange, die Kleinen stupsten ihn irgendwann wach, denn sie hatten Hunger. So brach er auf, um Nahrung zu beschaffen.

Es hat sich vieles in seinem Leben ergeben. Zuvor ungeahnte Gefühle haben inzwischen viel Raum in seinem Leben eingenommen. Vertrauen ineinander war geweckt worden. Sie hatten gemeinsame Nähe gefunden. Nicht wenig für eine Seele wie Isegrim. Manchmal waren sie aber auch tagelang voneinander getrennt, weil die Wölfin sich gerne mal zurückzog. Isegrim hatte sich dann immer einen festen Platz gesucht und gewartet, bis sie wieder gekommen war. Auf Wiesen unter irgendwelchen Bäumen hatte er dann tagelang ausgeharrt und die Hoffnung nicht aufgegeben. Schließlich war sie dann auch immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Sie musste ihm manchmal einfach fernbleiben, ihm aus dem Weg gehen, sich selbst wiederfinden. Wenn sie das aber überstanden hatte, hatte sie sich immer wieder für Wochen fest für ihre Gemeinschaft entschieden.


Dritter Teil

Der graue Wolf schaute der Abendsonne hinterher. Gerade sah man noch die letzten rot glühenden Verfärbungen am Himmel. Ein Hase lief entfernt von ihm über die Wiese. Er bellte, so dass der Hase heftig erschrak und schleunigst davonlief. Zufrieden über solchen Respekt legte sich der Wolf wieder hin und genoss den Anblick der untergehenden Sonne weiter.

Eben noch hatte sie ihm den Rücken gewärmt, jetzt kühlte schon der Wind und es legte sich der nächtliche Schleier über die Gegend.


Der Ruf eines Käuzchens weckte ihn mitten in der Nacht. Er bemerkte, dass sein Zahnfleisch unangenehm schmeckte und trottete zu einem jungen Bäumchen, riss sich einen jungen Ast ab und kaute darauf herum. Irgendwann musste er dann niesen, tat das zwei, drei Mal, und rieb sich die Nase und sein Maul an den Gräsern ab. Er biss sich ein anderes Stück Holz ab und kaute darauf herum.


Die drei Welpen sind jetzt schon fast ausgewachsen. Sie beteiligten sich schon lange an der Nahrungssuche. Sie brauchen viel Nahrung. Der Nachwuchs hatte sich schnell ans Jagen gewöhnt und begleitete die beiden älteren Wölfe unentwegt.

Sie waren immer weitergezogen, in einem nahezu konstanten Abstand zum Gebirge, um ihren möglichen Rückzug nicht aufzugeben. Hier, in den Laubwäldern am Fuße des Gebirges, gab es für sie ausreichend viele Wildtiere.

Sie blieben immer dicht beieinander. Einige feste Rastplätze hatten sie auch, wenngleich sie immer von einem zum anderen zogen, um sich nicht festzusetzen.

Nach dem gemeinsamen Jagen war das Teilen der Beute stets ein besonderes Ereignis, bei dem die elterlichen Vorrechte den Ablauf bestimmen mussten. Die gemeinsamen Gesangsstunden am Abend und in der Nacht brachten dann auch immer wieder die Luft zum Erzittern und gaben ihnen das Gefühl, als Familie eine Einheit zu bilden. Dabei standen sie mit hoch gerecktem Kopf da und sangen zu den Geistern der Nacht, der Berge und der Wildtiere. Das war immer auch ein sich Einstimmen aufkommende Geschehnisse, denn so festigten sie ihren Zusammenhalt. Ihr Leben war geprägt durch die Gegebenheiten der Natur, die sie ihnen auferlegte. Dementsprechend tiefgreifend waren die Momente, in denen sie ihre wahre Natur erkannten.

Jede einzelne Handlung der Tiere konnte das Fortbestehen des Einzelnen wie auch der Gruppe folgenschwer verändern. Um das Nötige zu regeln, gab es die von den Elterntieren vorgegebene Ordnung. Während Ihres gemeinsamen Heulens verdichtete sich das Wissen um diese Ordnung zu einem tiefgehenden Gemeinschaftsgefühl, das der bestehenden Hierarchie im Rudel entsprach. Alle Abläufe waren keineswegs vorbestimmt und doch gab es dem Ganzen seine Ordnung.


Vierter Teil

Isegrim war damit beschäftigt, sein Fell zu putzen. Heute ließ er sich besonders lange Zeit dafür. In seiner Nähe spielte der neu dazugekommene Nachwuchs 'ausgewachsener Wolf', ein Spiel, das jeder Wolf einmal gespielt hat. Sie tobten umeinander her, so gut sie nur konnten. Sie waren noch tapsig. Ein ganz kleiner Wolf biss einem Größeren in den Nacken und versuchte ihn zu beeindrucken, was den grauen Wolf zum Schmunzeln brachte.

Es litt schon lange keiner der Wölfe mehr Hunger. In den ersten Jahren der Gemeinschaft hatte es vereinzelt noch gewisse Härten gegeben, doch mittlerweile war ihr Rudel so groß, dass sie sich die Jagdgebiete schon untereinander aufteilen mussten. Sie waren den anderen Tieren gegenüber übermächtig. Und Ihre Bande war stark, die Sippe hielt fest zusammen.

Im Laufe der Zeit waren sie weiteren streunenden Wölfen begegnet, und dort, wo es sich gefügt hatte, hatten sie sich zu einem größeren Rudel vereinigt. Es war auch eine neue Wölfin hinzugekommen, die größer und kräftiger als alle anderen war. Sie war noch jung und bald hatte sie die Führung inne. Sie dominierte die anderen und führte ihr Rudel auf gerechte Weise an. Die Wölfin, die Isegrim zuerst gefunden hatte, hatte sich dem gefügt.

Isegrim selbst war nicht mehr der Jüngste. Seine Wölfin und er waren nun das, was er sich immer gewünscht hatte: Gefährten in einem gemeinsamen Bund. Sie gingen oft zusammen jagen und waren auch sonst immer wieder nahe beieinander. Das neue Leittier beeindruckte sie wenig, und man ließ sich gegenseitig gewähren.

Irgendwann musste etwas zum Fressen beschafft werden, und einige der älteren Wölfe zogen zu diesem Zweck los. Ihr Fell schimmerte samten und grau während sie gingen und irgendwann verschwand ihr Bild in der Ferne mit der Umgebung. Der Graue blickte ihnen manchmal wehmütig hinterher. Gerne wäre er noch so jung wie sie.


Sie hetzen heulend über das Land, eilten durch Wälder und über Lichtungen. Nach einem langen Marsch erreichten sie einen Waldrand, witterten dort Rotwild. Eine blutrünstige Jagd folgte. Angstvoll schreiende Tiere hetzten davon so gut sie konnten, bildeten schließlich einen engen Kreis, um sich zu verteidigen. Irgendein Tier am Rande der Herde wurde schließlich angegriffen, abgedrängt, sprang endlich davon, was die Wölfe dazu veranlasste, einen Keil zwischen dieses Tier und die Herde zu treiben. Das Tier trabte davon, schlug Hacken, aber es half ihm nichts. Die grauen Gesellen bissen es tot und begannen bald damit es aufzufressen. Später rissen sie große Happen aus seinem Leib heraus und brachen wieder auf, um zurückzukehren. Diese waren für die jungen Wölfe bestimmt, die im engen Kreise des Rudels spielend den Abend verbracht hatten. Das Fressen dieser Happen bereitete den jüngsten Wölfen das größte Vergnügen.


Fünfter Teil

Sie trabten durch die Nacht. Die Sterne standen hell am Himmel, mit schwarzem Mantel überdeckte derweil die Nacht die Landschaft. Einzig der Mond konnte das eine oder andere Ding etwas bescheinen, so dass man überall irgendwo grauweiße Schemen zu sehen bekam.

Es ging an einem See entlang, über felsige Hügel geradewegs zum bergigen Gelände hin. Der Graue blieb irgendwann stehen und verweilte bei einem Felsen. Er war alt geworden, musste sich Zeit bei seinen Dingen lassen. Er ließ anderen jetzt oft den Vortritt.


Ein schwaches oder altes Tier zu jagen, stellt einen Vorteil für den Jagenden dar. Die Effizienz der Jagd stieg dabei erheblich an.

Gruppen von Wildtieren, die durch den Wald zogen, hinterließen immer irgendwelche Spuren. Diese waren dann kaum zu übersehen.

Meist blieben Herdentiere beieinander, zur besseren Verteidigung und zur Erhöhung der Wachsamkeit. Um Jungtiere zu verteidigen, würde das männliche Großwild bis zum Äußersten des Denkbaren gehen. Erschienen Raubtiere in der Gegend, so bestand für sie erhöhte Alarmbereitschaft. Würden ein paar Wölfe etwa Hirsche, Rehe oder Gämsen aufspüren, so würde die Jagd im selben Moment noch beginnen. Die starke Witterung der Huftiere würde bei den Wölfen Jagdfieber hervorrufen. Käme es zu einem solchen Zusammentreffen, würde jede der beiden Gruppen versuchen, eine optimale Formation im für sie besten Terrain einzunehmen.


Eine Herde mächtiger Hirschböcke weidete im Verein mit Hirschkühen und Kitzen im Schatten von Laubbäumen. Sie fraßen Knöspchen von den Bäumen, Pilze und Beeren, sowie manches weitere, was dort so wuchs. In trauter Eintracht tränkten sich Jungtiere an den Zitzen der Mutterkühe. Ihre Gemeinschaft war stark. Der Nachwuchs gedieh prächtig, denn man kümmerte sich sorgsam um ihn. Spielerisch warfen sich einige junge Böcke aufeinander und verhakten ihre Geweihe ineinander, um ihre Kraft zu messen. Derweil näherte sich Isegrim mit seiner Wölfin und drei weiteren Gefährten aus dem Rudel.


Die Kälte zog Kräfte aus den Körpern, wie jede Nacht zurzeit. Sie waren damit beschäftigt, eine Gruppe Rotwild zu verfolgen. Tags zuvor hatten sie erste Spuren der Herde ausgemacht, sich seitdem immer näher an diese schönen Tiere heran gepirscht. Nur nicht frühzeitig erkannt werden, das war ihre Devise. Sie zögerten noch mit einem Angriff, um Zeit zu haben, die Gegend besser zu erforschen. Sie wollten sich einen Vorteil im Gelände verschaffen. Diese Beute sollte ihnen nicht entkommen.

Die Fünf liefen nebeneinander her, nahezu lautlos waren sie dabei. Einen Tagesmarsch schon waren sie von der Hauptgruppe ihres Rudels weg, hatten dieses Labyrinth aus Bäumen, Hindernissen und Fluchtmöglichkeiten ausspioniert und sich auf den Zugriff vorbereitet.

Das Gelände war gebirgig. Grauer Granit durchbrach die dicke Humusschicht an vielen Stellen. Saftig grün waren die Böden vom gut gewachsenen Moos und den Gräsern, denn langanhaltende Regengüsse hatten den Boden reich getränkt und die letzte Sonnenwärme des Jahres hatte noch einmal Gedeihen über den ganzen Wald gebracht. Überall wuchsen Pilze und Gerüche nach Moos und Rinden erfüllten die Luft. Hier und da rief ein Käuzchen, Eichelhäher ließen ihren Ruf warnend erschallen. Weit entfernt befand sich die Herde der Hirsche in friedlicher Eintracht beieinander stehend, aber hellhörig für die Geräusche und Witterungen der Umgebung.


Die Blicke der Wölfe suchten einander, fanden einander und sie verstanden einander. Immerzu wurde das weitere Vorgehen eindeutig festgelegt. Die fünf Wölfe waren es gewohnt, so zu handeln, und es schien fast so, als ob sie nur einen einzigen, vereinten Geist hätten.

Isegrim spitzte die Ohren und lauschte in den Nachthimmel hinein. Ein paar Sterne konnte er erkennen, wo der Wald sich lichtete. Derweil blies ein frischer Wind durch die Baumwipfel, brachte sie zum Schwanken, riss an manchen Stellen Blätter ab. Die Dunkelheit wäre für die Wölfe ein Vorteil, doch nach dem langen Marsch brauchte das Rudel irgendwann auch seine Ruhe und so legten sie sich unter die Bäume, dort, wo es nicht ganz so feucht war, und schliefen einen kurzen, erregten Schlaf.


Noch in der Nacht war die Wölfin schon unterwegs und hat den genauen Platz der Hirsche ausfindig gemacht. Bei einem Teich am gegenüberliegenden Berg weideten sie.

Sie gab jetzt für den Moment den Ton bei ihnen an. Isegrim und die anderen trotteten ihr hungrig und mordlustig hinterher, während es gleichzeitig dämmerte. Die Morgensonne setzte ein.

Die Strecke bis zum See legten sie in forschem Trab zurück und verhielten sich erst vorsichtiger, als sie nahe genug waren, um vielleicht gehört zu werden. Ihre Körper spannten sich innerlich an, sie spürten zudem ihre ziehenden Mägen und so drangen sie vorsichtig und nahezu lautlos in das Gebiet der Hirsche ein.

In lauernder Haltung schritten sie voran, nahmen die Hirschböcke und die Hirschkühe vor sich wahr. Sie sondierten die Lage, suchten nach Schwachstellen, nach möglichen Opfern und bildeten ihre Formation. Es brachen jetzt gerade die ersten Sonnenstrahlen durch die Bäume.


Der Teich war größer als angenommen. Es war ein langgezogener schmaler See, umgeben von Bäumen und Sträuchern. Zwischen See und Wölfen befanden sich jetzt die Hirsche. Vorsichtig schauten die Wölfe sich um, sahen weitere Hirsche abseits stehen.

Leise schlichen sich Isegrim und seine Gefährten an ein paar Hirsche heran, wollten einen Keil zwischen die Hauptgruppe und zwei abseits stehende Hirschkühe mit ihren Kitzen schlagen.


Eine Hirschkuh schaute her. Im Nu beschleunigten sie ihren Gang, hetzten los und schreckten so die Hirsche auf. Diese sprangen fast im gleichen Moment in alle Richtungen, ein heilloses Durcheinander entstand. Ein paar von ihnen liefen sogar auf die Wölfe zu, die ihren Plan ändern mussten und ihrerseits für noch mehr Wirbel in der Herde der Hirsche sorgten. Doch die Hirsche ordneten sich schließlich, liefen alle in die gleiche Richtung davon, eng beieinander und sammelten sich. Doch ein Jungtier konnte nicht zu ihnen aufschließen und so wurde es zur Beute von Isegrim und seinen Gefährten.

Kurz darauf entdeckten sie noch ein weiteres Jungtier, das ganz in die falsche Richtung gerannt war, und auch dieses bissen sie tot. Sie fingen damit an, die Beute zu reißen. Der Geruch nach Blut schwebte in der Luft. Der Geruch des Mooses vermischte sich mit ihm. Fauliges Holz verstärkte diesen Eindruck noch. In aller Ruhe weideten sich die Wölfe am Fleisch dieser jungen Hirsche.


In naher Ferne war das wütende Röhren der Hirschböcke deutlich zu vernehmen. Irgendwann dann kam eine ganze Schar riesengroßer Hirschböcke mit gesenktem Kopf herbei gerannt, und die Wölfe waren gezwungen, vom Fressen abzulassen und zurückzuweichen. Ein mächtiger Bock hatte sie schon erreicht, senkte sein Geweih tief hinunter, fast bis auf den Boden, und auch die anderen Hirsche taten es ihm gleich mit dem Ziel, die Wölfe in die Enge zu treiben. Die Wölfe wehrten sich ihrerseits mit nervösen Versuchen, nach dem Hals der Hirsche oder anderen schmerzhaften Stellen zu schnappen.


Die Wölfe konnten gerade so ihre Position halten, da kamen von der Seite plötzlich noch drei weitere Hirsche, die weniger mächtig waren und abgewartet hatten, ehe sie in das Geschehen eingriffen. Die Wölfe waren nun in einer Zwickmühle.

Sie gingen auf einen der jüngeren Wölfe los, einer spießte ihm schließlich sein Geweih in den Bauchbereich, worauf Blut umher spritzte. Ein anderer nahm ihn auf sein Geweih und wirbelte ihn so durch die Luft, dass er mit dem Genick auf einen Felsen prallte. Es brach sein Genick und dann lag er blutend und mit schief hängendem Kopf da.

Die anderen Wölfe erschraken heftig und bellten lauthals mit drohenden Gebärden. Siegessicher klangen dagegen die Geräusche der Hirschböcke. Jetzt griffen die Wölfe aus Angst um ihr Leben die Hirsche viel härter und mit mehr Bereitschaft an. Einer biss einem von ihnen eine tiefe Wunde in dessen Hals, ließ aber von ihm ab, ehe er ihn hätte töten können und hetzte zusammen mit der Wölfin und dem anderen verblieben jungen Wolf mitten durch die im Moment verdutzt schauenden Hirschböcke hindurch, und dann so schnell auf und davon wie sie nur konnten. Einzig Isegrim konnte diese Situation nicht für sich nutzen. Er konnte keinen Ausweg finden und so stand er jetzt den Böcken allein gegenüber, und er ahnte, was kommen würde. Der am Hals blutende Hirschbock war außer sich, setzte zu seiner letzten Handlung an und versetzte Isegrim den vermeintlichen Todesstoß.


Der Traum

Eine grüne Au, feucht vom Tau, lag ihm zu Füßen. Nebelschwaden durchzogen die Lüfte. Isegrim lag matt und kraftlos da. Irgendwann hob er seinen Kopf, blickte um sich, um wahrzunehmen, wo er war. Er roch einen innig geliebten Duft nach würzigen Kräutern.

Ein Nieselregen setzte ein und wirkte erfrischend auf ihn. Ein Schleier, der auf seinen Wahrnehmungen lag, verdichtete sich und fiel dann doch wieder von ihm ab, nur um kurz darauf noch mehr von ihm Besitz zu ergreifen. In gewissen kristallklaren Augenblicken sammelte er Eindrücke seiner Umgebung, die er nicht kannte. Er stellte sich auf die Beine und tappte zögerlich ein paar Schritte nach vorne, schaute sich wiederholt um und ging verwundert weiter.

Er kam an einer Lichtung an, da lagen unweit von ihm viele Wölfe in trauter Eintracht im Gras. Sie schienen irgendwie auf ihn zu warten. Er tappte auf sie zu und ließ sich beschnuppern. Einer der Wölfe hob zu einem durchdringenden Geheul an. Isegrim kam es vor, als würde er willkommen geheißen werden.

Einen kleinen Bachlauf in der Nähe nutzte Isegrim, um seinen Durst zu löschen. Es schmeckte gut, dieses Wasser aus dem Bach. Er bekam einen unbändigen Durst und trank, was er nur konnte, bis er endlich genug hatte. Anschließend sah er das frisch geschlagene Reh, es lag inmitten des Rudels. Die Tiere weideten sich ab und zu am Fleisch. Er gesellte sich wieder zu ihnen und gab seinem Drang nach und kostete das Fleisch. Es schmeckte süß. Er fraß, als hätte er seit Jahren nichts Richtiges gefressen. Dann setzte er sich auf seine Hinterpfoten und vergaß alles um sich herum.


Nach einer ganzen Weile der Selbstvergessenheit kam ihm die Erinnerung an das zurück, was zuvor passiert war. Er merkte wieder, dass er sich an einem rätselhaften Ort befand. Er schaute sich genau um, versuchte zu verstehen, was das hier für ein Geschehnis war und stellte nun endlich fest, dass er keinen einzigen dieser Wölfe kannte. Das hier waren sicherlich nicht seine Gefährten, möchten sie ihm auch noch so freundlich gesinnt sein, wie sie wollten.

Er konnte sich hier ausruhen. Das merkte er gleich, nutzte es für sich und legte sich hin. Doch wieder dämmerte er für unbestimmte Zeit weg. Irgendwann kamen ihm in jenes Nichts seines Geistes Träume von heulenden Wölfen, von seinen alten Gefährten...


Er wachte geschockt auf. Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen und geschlafen hatte. Er fand das alles schon unheimlich. Was war das hier und was sollte das hier? Er suchte nach einer Antwort und konnte keine finden. Er ging zu den anderen und fraß noch einmal vom Reh. Die anderen Wölfe schauten ihm dabei mit großen Augen zu. Es war befremdlich.

Er fraß sich satt, trank Wasser vom Bach, ging ein Stück, dann noch eines, dann über die Wiese hinüber zu dem Platz, an dem er das erste Mal aufgewacht war. Er achtete genau auf das Verhalten der anderen Wölfe. Er entfernte sich vorsichtig immer weiter von diesem Rudel. Sie schienen nichts anderes zu tun zu haben, als ihn zu beobachten.

Nachdem sich bereits eine gewisse Distanz zwischen ihm und ihnen befand, fühlte er sich wohler. Er hatte zuvor gar nicht gemerkt, dass er sein Wohlbefinden verloren hatte. Dann auf einmal fühlte er eine gewisse Sicherheit in seine Knochen zurückkehren. Auch deren Verlust hatte er zuvor nicht bemerkt. Ihm wurde angst und bange. Was hat er noch so unwissentlich verloren?

Er lief weiter, beschleunigte sein Tempo, hetzte mit großen Sprüngen hinfort. Jetzt heulten die Wölfe ihm auf grauenvolle Weise nach, aber sie kamen nicht auf den Gedanken, ihm hinterher zu jagen und ihn aufzuhalten.

Die schöne Aue war mit einem Mal ein Ort des Grauens. Schrecklich nervöses Gebell und Gejaule durchdrang seine Glieder, zehrte an seinen Kräften, raubte ihm allen Mut. Wo sollte er hingehen? Würde er hier nicht gefangen sein? - Er wusste ja nicht einmal, wie er hierhergekommen war.

Mit jedem weiteren Schritt, den er wegging, wurde sein Geist klarer als zuvor. Erst waren es Schemen, dann Figuren, und schließlich Bilder, die ihm vor Augen kamen. Er merkte bald, dass er sich inmitten eines bösen Traums befand, wie er süßer und giftiger nicht sein konnte. Er erinnerte sich immer und immer wieder an das Geschehen des Tages, den Kampf mit den Hirschen, den getöteten Wolf, die Flucht seiner Gefährten, jenen Schmerz der Vorahnung des eigenen Todes.

Er wusste nicht, was zu tun war, nirgends gab es das Zeichen eines Durchgangs in seine eigene Welt zurück. Er sprang und sprang und sprang immer wieder hoch in die Luft, als wollte er den Himmel erreichen. Fort von diesem Ort, dieser Garten der Düsterkeit. Weg von seinen wollüstigen Mählern, die die Gedanken umnebelten. Weg von diesen satt grünen Wiesen mit ihren Gerüchen nach Heilkräutern. Er hob seine Nase, was war das? Es roch nach Kräutern, die da aber doch mehr nach...


...nach fauligem Holz rochen. Den intensiven Geruch gefaulten Holzes in der Nase wachte endlich aus seinem Traum auf. Er war allein mit dem getöteten Wolf und dem blutenden Hirschbock neben ihm, der lauthals röchelnd in den letzten Atemzügen lag. Es war ein heller Tag. Es musste fast der halbe Tag bereits vergangen sein seit ihrer Niederlage.

Die Hirsche schienen ihn wohl tot geglaubt zu haben und hatten den unseligen Ort verlassen. Irgendwann richtete sich Isegrim auf, mit einem dröhnenden Gefühl im Kopf und mit einem Schmerz in seinen Knochen. Die anderen Wölfe waren wohl schon weitergegangen. Mit dem Gefühl, einem schlimmeren Schicksal entgangen zu sein, trottete Isegrim ihnen schließlich hinterher.